text: Dr. Wolfgang Steguweit

Laudatio auf Carsten Theumer zum „Deutschen Medailleurpreis“ 2023

Vor exakt 50 Jahren fuhr ein Gothaer Museumsmann nach Halle, um mit dem Leiter der Bildhauerklasse an der „Hochschule für industrielle Formgestaltung Burg Giebichenstein“ Gerhard Lichtenfeld (1921-1978) und seinem Assistenten und Lehrbeauftragten Bernd Göbel die erste im Schlossmuseum Gotha geplante Retrospektive zur Medaillenkunst in der DDR (1974) zu besprechen. Zu der Zeit war der später mit CT bzw. T signierende Stern am Medaillenhimmel noch nicht aufgegangen. Drei Jahre später nahm Carsten Theumer mit 21 Jahren an der „Burg“ sein Studium in der Fachklasse Plastik bei Bernd Göbel auf. Nach anschließender Aspirantur und einem freiberuflichen Intermezzo 1990 wurde er dessen Assistent und künstlerischer Mitarbeiter an der nunmehrigen „Hochschule für Kunst und Design“ im Fachbereich Plastik.
Als 1989/90 im Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin in Verbindung mit der Staatlichen Münzsammlung München die vielbeachtete Ausstellung zum Wendeprozess in der DDR und dem beginnenden Vereinigungsprozess konzipiert wurde – gezeigt in München, Berlin, Bonn, Nürnberg, Gotha – erregte die 1988 entstandene „Halle“-Medaille von Carsten Theumer besondere Aufmerksamkeit. (Abb. 1)

Es heißt über sie im damaligen Katalog:
„Der historische Stadtkern mit der Marktkirche St. Marien und dem Roten Turm ist mit einer fiktiven Mauer umstellt („geschützt“) und zusätzlich vertäut. Trotz dieser Vorkehrungen ist der innere Zerfall nicht aufzuhalten, ‚denn weder Bollwerk noch Mauern sind beständigere Schutzwehren der Städte als Bürger mit Bildung, Besonnenheit, Klugheit und anderen Tugenden geschmückt‘.“
Theumer übertrug das Zitat von Philipp Melanchthon, der es 1526 der Gründung des St.Egidien-Lateinschule Nürnberg 1526 (heute Melanchthon-Gymnasium) gewidmet hatte, geschickt auf seine Stadt Halle. Die Marktkirche Unser Lieben Frauen steht auf der Medaille zwar wie eine feste Burg, aber der Rote Turm scheint nicht mehr zu halten zu sein. Nach wie vor stand auch er weitgehend aufrecht, wenn der Gothaer Doktorand zu Seminaren nach Halle fuhr und durch die Innenstadt ins Kunsthistorische Institut der Martin-Luther-Universität zum Kaulenberg lief. Aber der schleichende Architekturverfall war bereits überall sichtbar, er machte auch vor der Altstadt Halle nicht halt. So mag der stürzende Turm auf der Medaille zugleich als Metapher für den beginnenden Untergang der DDR stehen und ein warnendes Signal für Politik und Medien sein. Im Unterschied zu eindimensional reflektierenden „Leitmedien“ – früher wie heute – kann die Medaille als „Kunst für die Hand“ die Wirklichkeit kritisch überhöhen, bildhaft einprägsam abbilden und somit über die ästhetisch-sinnliche Wahrnehmung differenziert zum Nachdenken anregen.

Es war der erste leuchtende Stern am Medaillenhimmel Theumers. „Medaillenastronomen“, Kenner wie Liebhaber, verfolgten von nun an weitere Fixpunkte auf der künstlerischen „Umlaufbahn“ Carsten Theumers .
Einige wenige Entschlüsselungen von seiner besonderen Reliefsprache im Medaillenbild seien pars pro toto ausgewählt. Der Laudator wählte sie überwiegend aus seinem kleinen eigenen Bestand.

1991: Ex occidente felicitas („Bananensegen“)

 

Abb. 2, Bronzeguss, 100 mm

Auf einer unbequemen hügeligen Insel hockt ein nackter Mann, dem aus Ohren und aufgesperrtem Mund Bananen quellen, deren Schalen das Haupt bedecken. Der übersetzten Umschrift „aus dem Westen (kommt) das Glück“ fehlt das Fragezeichen. Der Mann ist dennoch zu verorten, denn in seiner rechten Hand der verschränkten Arme hält er ein Fähnchen mit herausgeschnittenem Staatswappen. (Abb. 2)
Auf der Rückseite wird dem sehnsüchtig die Hand Ausstreckenden eine Banane aus den Wolken von der Hand des Salvators gereicht. „Betrogen, Rettungsdank dem Schlafenden da droben?“ ließ Goethe 1774 seinen Prometheus fragen. Zwar waren Bananen einstmals begehrt, weil außerhalb Berlins-Hauptstadt der DDR schwer zu ergattern, doch scheint diese eine sich zum retten nicht einmal zu eignen. Ist es etwa nur ein Wink mit dem Zeigefinger?

1995:
50 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs regte die Deutsche Gesellschaft für Medaillenkunst an, mittels des Kleinreliefs den Gegensatz von Krieg und Frieden zu thematisieren. Mehrere Künstlermitglieder beteiligten sich. Carsten Theumer wählte diese Metapher. (Abb. 3)

Abb. 3, Bronzeguss, 92 mm

Für eine friedliche Welt startet frohgemut ein Jüngling einen papierenen Segelflieger, obwohl er auf einem schmalen Stab balanciert. Die Hoffnung stirbt zuletzt, mag die Deutung sein. Denn was wäre die Alternative? Das vergebliche, aber unerbittliche Ringen von Männern um die zerfetzten und daher untauglichen Flügel des Ikarus? Stehen sie auf dem gewölbten Erdenrund und verkörpern durch die Zahl von fünf nackten Kriegern so etwas wie den Anspruch einer Alleinstellung?

1997 

Abb. 4, Bronzeguss, 85 x 90 mm

Eine besonders originelle Jahresmedaille lieferte T. seiner DGMK als Jahresmedaille 1997. (Abb. 4) Darin blieb er sich als gelegentlich künstlerischer „advocatus diaboli“ treu, frei nach dem Gespräch von Faust in dessen Studierzimmer mit Mephistopheles, der stets verneint und dabei doch das Gute schafft.
Paris, Schafhirte und Sohn des trojanischen Königs Priamos und der Hekabe sollte den Streit zwischen Hera, Aphrodite und Athene schlichten und die Schönste bestimmen. Der mythologische Paris schenkte den Apfel der Liebesgöttin Aphrodite (Venus), die ihm dafür die schöne Helena von Sparta zur Frau versprach und in der Folge den Trojanischen Krieg auslöste.
Um dem Urteil auszuweichen und somit Krieg zu vermeiden, verzehrte – so Theumers Version – Paris den Apfel selbst. Auf der Vorderseite sieht man nur die Beine des auf einen Baum der Weisheit (?) gestiegenen Paris, während unten eine der drei Schönen mit erhobener Faust droht, eine zweite verzweifelt, aber hoffnungsvoll nach oben blickt, die Dritte sich hingegen kopfschüttelnd abwendet. Geradezu spöttisch-ironisch in ihrer Überhöhung ist die Rückseite mit dem abgenagten Apfel, der den drei Göttinnen, aber zugleich der Deutschen Gesellschaft für Medaillenkunst als Relikt verblieb.

Von neueren thematischen Arbeiten mit doppelsinnig-zwiespältiger Interpretation ist eine Medaille aus dem Jahre 2015 hervorzuheben, entstanden zum 12. Deutschen und 50. Süddeutschen Münzsammlertreffen in Speyer unter dem Thema „Böses Geld, schlechtes Geld, falsches Geld“. (Abb. 5)

2015

Abb. 5, Bronzeguss, 88 x 96 mm

Drei unterteilte Bildelemente annoncieren zum Tagungsthema die schriftlose Vorderseite: Gesicherte Geldkoffer, gefüllt mit bösem Geld aus Waffen- Drogen und anderen Geschäften wandern von Hand zu Hand, die anonymen Dealer im großkopfigen Auftrag elegant gekleidet. Ein kleiner Betrüger beißt zur Sicherheit prüfend auf ein falsches Geldstück. Zum schlechten Geld beschreibt Rainer Albert im Vorwort des Tagungsbandes eine galoppierende Wildsau mit Schlips als einen Verweis auf den Berufsstand der Banker. Es sei heute nicht mehr ratsam, so Theumers Botschaft, ein Sparkonto anzulegen, das große Geld ergreift ohnehin die Flucht und hinterlässt kleine Münze.
Auf der Rückseite rahmt der Anlasstext den Kaiserdom zu Speyer, ergänzt durch weitere Motive wie die Eule als Symbol für Münzkunst und Weisheit sowie ein großes gotisches „S“ als Münzbild der mittelalterlichen Speyerer Heller.

Es würde Theumers Œuvre auf gesellschaftskritische Themen und deren künstlerische Interpretationen verkürzen, wenn sie nicht auch andere Bereiche einbezieht. Da ist der Komplex der seit Gustav Weidanz, Gerhard Lichtenfeld und deren Schüler, etwa Wilfried Fitzenreiter und Bernd Göbel zur Meisterschaft gereiften Bildnisse. Weidanz war der unübertroffene Meister von Porträtsilhouetten im Flachrelief, das seine Schüler und Enkel allmählich zu größerer Höhe aufbrachen.
Theumer bekennt sich in Porträts durchaus zur „Halleschen Schule“. Eine Gussmedaille und zwei Münzprägungen sollen dafür stehen.

1995

Abb. 6, Bronzeguss, 107 mm

Aus Anlass des 450. Todestages Kardinal Albrechts von Brandenburg (1490-1545), Erzbischof von Mainz und Magdeburg, edierte die Staatliche Galerie Moritzburg eine Medaille von der Hand Theumers. (Abb. 6) Zum würdig empfundenen, klassisch silhouettierten Bildnis des bedeutenden Kirchenfürsten, Kunstsammlers und Mäzens stellte er das Portal des 1523 geweihten Halleschen Doms mit Anlass- und Herausgeberumschrift in die Mitte. Als wäre der Kardinal – oder war es jemand anderes? – gerade durch das leicht geöffnete oder sich schnell schließende Tor hineingeschlüpft, lugt noch die Spitze eines langen Mantels hervor und verleiht der Darstellung einen Hauch von geheimnisvoller Sinnlichkeit des lebensfrohen Kirchenfürsten.

Porträtmedaillen auch in geprägter Form begleiteten Theumer seit Mitte der 1980er Jahre. Sie trainierten die Bedingungen des prägebedingten Flachreliefs. Weidanz hätte seine Freude an ihnen. Zwei besonders prägnante Gedenkmünzen zu Euronominalen entstanden auf den 200. Todestag Friedrich Schillers (2005) und den 250. Geburtstag Alexander von Humboldts (2019).

2005

Abb. 7, 10 Euro 2005 Friedrich v. Schiller, Silberprägung, 32 mm

Das Preisgericht, an dem der Laudator seinerzeit mitwirkte, hob die gelungene Bildnissilhouette Friedrich Schillers (1759-1805) hervor. Sie erinnert an ein Gemälde Gerhard von Kügelgens (1772-1820) im Frankfurter Goethe-Museum. Der „Rahmen“ mit der Nennung einzelner Werke des Dichters kontrastiert in der Spiegelglanzausführung eindrucksvoll zum Mattrelief des Porträts. (Abb. 7)

2019

Abb. 8, 20 Euro 2019, Silberprägung, 32 mm

Die Porträtsilhouette des Forschungsreisenden Alexander von Humboldt (1769-1859) ist mit signifikanten Symbolen seines Wirkens verbunden. (Abb. 8) Zunächst überrascht das einer chemischen Formal entlehnte Gitternetz. Es assoziiert die vielfältigen Interessen Humboldts und verweist mehrsprachig auf seine Forschungen, die Vielfalt der Kulturen, die Vielfalt der Sprachen bis auf das global vernetzte Denken im digitalen Zeitalter. Alles ist Wechselwirkung. Das Gebilde im oberen Feld stellt schematisch den Vulkan Chimborazo (Ecuador) dar. Humboldt wollte ihn mit seiner Höhe von nahezu 6300 Metern erklimmen, musste aber die Expedition abbrechen. Geschickt hat Theumer die kompositorischen Elemente aus Bild und Schrift verbunden und mit der Rückseite in Einklang gebracht.

Die jüngste für die Laudatio ausgewählte Arbeit greift ein aktuelles zeit- und gesellschaftskritisches Thema im Iran auf.
Eine „Jury“ der DGMK traf am 9. November 2022 in München die Auswahl für die FIDEM-Ausstellung 2023 in Florenz und setzte unter den sogenannten „Top Ten“ die Arbeit von Carsten Theumer auf Platz eins. Da der Laudator nicht bei er Auswahl zugegen war und die Begründung nicht publiziert worden ist, half die erbetene Beschreibung und Kommentierung durch den Künstler:

2022

Abb. 9 „Aufbruch“, Bronzeguss, ca. 90 x 90 mm

Vorderseite:
Um einen Männerkopf mit den Attributen eines Mullah (Bart und Turban), reihen sich einzelne (Frauen-)Hände mit abgeschnittenen Haarsträhnen.
Ein eindringliches Bild aus den Tagen des Protestes der iranischen Frauen vom vergangenem Jahr. Bei dem Kopf handelt es sich um einen Ayatollah, den derzeitigen Staatsführer des Iran. Ich wollte aber unbedingt verhindern, ein Bildnis zu machen, deshalb der Balken in Form einer Steinmauer vor den Augen und der Beschnitt am Haupt. Es ging nicht um ein Abbild, sondern um die Darstellung der personifizierten Macht des Landes.

Rückseite:
Die Darstellung ist ein Bezug auf die alte Staatsflagge des Iran, in der bis 1979 das Symbol des Löwen mit Schwert vor aufgehender Sonne zu sehen war. Ein kleines Mädchen, reitet den Löwen, hat ihn also gebändigt. Das Kopftuch ist um die Spitze des Schwertes gebunden und „entschärft“ dieses somit. Die offenen Haare stehen in einem borstigem Strahlenkranz in die Höhe und geben ein Bild der Hoffnung und Zukunft für die Frauen des Landes.

Meine Einordnung von Theumers künstlerischem (Medaillen-)Schaffen in die zeitgenössische Kunst schien gültig und für mich abgeschlossen zu sein, da eröffnete der Besuch einer großen Personalausstellung im Museum Schloss Moritzburg Zeitz im Sommer 2021 zum 65. Geburtstag neue Horizonte. Unter dem Titel „Fandango“ präsentierte der Künstler in seiner Geburtsstadt neue, ungewohnte Kreationen: Gussstücke Email - Treibwerke. (Abb. 10)

Man schlägt nach und erfährt: Fandango ist ein spanischer Singtanz. Der schnelle, turbulente Vortrag und die fortwährenden individuellen Variationen des Tanzes sind für Theumer ein passendes Synonym für die Vielschichtigkeit von Themen, Materialien und Techniken sowie deren stets neue Kombinationen untereinander.
Carsten Theumer selbst über Fandango:
„Fandango steht für die Bewegung, das Oszillieren zwischen den Gattungsgrenzen meiner traditionellen Bildhauersprache. Dazu hat Fandango auch einen schönen Wortklang, der gleichsam Neues und Unbekanntes assoziiert. Das schürt meine Lust, diese zu erforschen und für die Kunst zu entdecken.“

So entsteht bei allem künstlerischen Verdichten ernster zeit- und gesellschaftskritischer Themen im Widerschein zur Wirklichkeit durch die Kunst, auch in der handlichen Form der Medaille immer wieder Raum für Neues. Carsten Theumer lebt es mit seinen Zeitzeichen, und die Aufmerksamkeit wächst auch international für seine Schöpfungen. So hat ihn bereits 2018 die „American Numismatic Association“ für „Excellence in Medallic Art“ ausgezeichnet. Nunmehr ehrt ihn seine Deutsche Gesellschaft für Medaillenkunst in Partnerschaft mit der Stadt Suhl mit dem „Deutschen Medailleurpreis“ 2023. Herzlichen Glückwunsch!