text: Carsten Theumer

Brief an eine Zeichnerin

Ja, Du bist eine Zeichnerin!
Seit ich dich kenne, zeichnest du. Ich sehe dich sitzen in den verwinkelten Straßen der Halleschen Altstadt vor gewundene Häuserfluchten und alten, vielgestaltigen Fassaden. Du, auf dem Gehweg sitzend, vor dir eine Mappe mit einem großformatigem Blatt.
Wie Du mit Kohle und Kreide dieses Blatt füllst, mit vehementen und raschen Strichen, selten zweifelnd, unbeeindruckt vom Verkehr und neugierigen Passanten, konzentriert und versunken in deinem ganz eigenen Kosmos mit dem Gegenüber- dein ganzes Universum für kurze Zeit.

Die Fassaden der Häuser damals in Halle noch in allerlei Grau, viel loser Putz und freiliegendes Mauerwerk. Gerade dadurch für Dich grafisch so reizvoll.
Du kamst aus Halle Neustadt, der neuen Plattenbaustadt. So sichtbar Morbides gab es da nicht zu sehen. Diese, deine Stadt, war damals für Dich noch zu nah und vertraut und darum waren das Unbekannte in der Ferne die reizvolleren Ziele deiner zeichnerischen Erkundungen. Aber das sollte sich ändern.

Später dann, auf unseren gemeinsamen Fahrten in die Welt, sehe ich dich auf dem Boden zeichnend in den Kirchen Roms, im Staub der Straßen von Syrakus oder in den prächtigen Landschaften Kretas und des Peloponnes. Und auch an den Fjorden Norwegens.
Und wenn es nicht großformatige Blätter waren, so doch immer Skizzenbücher, die du stets dabei hattest und immer dabei hast und die sich zu Hauf füllten und es weiter tun, Eines um das Andere.

Du hast dich früh für deine zeichnerischen Mittel entschieden: Kohle, Tusche, Kreide, Graphit. - Nie Farbe! ... Durch dich habe ich gesehen, wie viele Arten von Schwarz es geben kann... und erst die Graus! Welcher Reichtum der Nuancen. Fast möchte ich sagen: Welche Farbigkeit von Graus!

Als Drucktechnik immer parallel dazu, ganz folgerichtig : die Kaltnadelradierung. Da tauschst Du den Stift nur gegen ein spitzes Eisen aus und zeichnest damit in den glänzenden Spiegel der Kupferplatte. Für mich ist das immer noch ein kleines Wunder, wenn ich einen Blick davon über deine Schulter erhasche.

Dabei ist die Kaltnadel auch nur reine Zeichnung. Kein Lavieren, kein Ätzen.
Keine Zufälligkeiten durch Chemie lässt Du zu! Immer pure Zeichnung .
Strich für Strich, Lage für Lage der Schraffur, Eins nach dem Anderen.
So könnte ich Dein Credo auch benennen, im Kleinen wie im Großen, mit der Konsequenz deines Tuns:
Eins nach dem Anderen!

Meistens arbeitest du, also zeichnend, direkt in der Natur, vor den Orten Deiner Begierde. Sie liegen nun verstärkt in der heimischen Landschaft, dem Mansfelder Land und dem Saalkreis, in den Ebenen des Süßen und Salzigen Sees unserer Heimat.

Die prägenden Bäume dieser Landschaft haben es Dir besonders angetan: mächtige Pappeln in langen Reihen, sie gliedern und strukturieren diese Landschaft, für uns sind diese, nach vielen Reisen in den Süden, die „Zypressen des Nordens“ geworden.
Und für manche deiner Sammler sind sie mittlerweile dein „Markenzeichen“ .

Durch Deine Blätter habe ich erst gesehen, wie unterschiedlich sie doch sind, gar nicht so uniform wie ihre italienischen Schwestern.
Wie sie immer ein wenig mit dem Wind flüchten, der da meist von Westen kommt, vom nahen Harz her. Was sie für herrliche Reihen bilden! Du zeigst es auf so mannigfaltige Weise.
Die einen sind schlank und ganz dicht belaubt, spitz zulaufend, andere verzwirbelt und zerrissen. Daneben welche, ganz locker und buschig in die Höhe strebend oder auch dramatisch gespalten, die Teile scheinbar voreinander fliehend.
Und wiederum einzelne ganz breit und schwer, fast tragisch ausladend, man könnte vermuten, sie wollten schon immer ein ganz anderer Baum sein.
So gleicht keine der Anderen und obwohl in Reih und Glied: alles Individualisten. Das ist irgendwie sehr beruhigend.

Und seit kurzem kehrst du nun wieder an den Ort deiner Kindheit zurück.
Halle Neustadt - Stadt deiner Kindheit.
Es entstehen ganze Folgen von Radierungen für ein gleichnamiges Buch.
Es sind Grafiken von großer Expressivität, Halle Neustadt, lichtdurchflutet, wieder ganz neu gesehen von Dir in einer neu erfundenen Realität dieser Reißbrettstadt.
Wenn ich diese Radierungen sehe, glaubte ich fast, es sind gezeichnete Schnappschüsse aus einem fahrenden Cabriolet, solch eine Leichtigkeit geht von ihnen aus.
Aber wie schon gesagt, das Kupfer gibt Wiederstand: Strich für Strich, Lage um Lage.

Wenn du vor der Natur zeichnest, geht es dir natürlich nie um eine Nachahmung oder einer Wiederholung dessen, was vorhanden ist.
So wie eine Fuge von Bach vielleicht auch immer nur Christus zeigen will, sind deine Zeichnungen vor der Natur immer wieder Neuschöpfungen, die über das Spezielle hinaus verweisen und damit eine Idee von unserer Wirklichkeit viel weiter tragen können. Vielleicht ein Wesen von großer Kunst? Mag sein.

Und so sehe ich in Deinen Feldblumensträußen aus vergangenen Sommern nicht nur die Melancholie des Verwelkens und Vergehens, sondern auch die ganze Pracht ihres strahlenden Daseins. Kennt man das Eine, sieht man das Andere.
So stecken in den Bildern eben auch Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Mahlzeiten, das Lachen unserer Jungs dabei, dein Lachen. Der Strauß in der Vase zeigt im Zeitraffer ein ganzes Leben, ganz nebenbei.

Und wenn ich Dich fragen würde:
Wolltest du auch einen üppig blühenden Strauß zeichnen, in seiner vollen Blütenpracht? Nun, sicherlich käme dir das gar nicht in den Sinn, ...denn es wäre ja vielleicht für Dich ... nur so etwas wie die halbe Wahrheit, ...oder eben nur das halbe Leben? 

Deine neuesten Grafiken sind wieder auf alten Kupferplatten, direkt vor Ort gekratzt, Landschaftseinblicke von den Ufern der Saale vor den Toren der Stadt Halle. Verwildertes Dickicht, zeitlose Orte, wo sich Natur ungestört Terrain zurück erobern kann.
Der hallesche Hafen nicht weit, ein Schrottplatz in der Nähe, von dem du deine Kupferplatten holst: Unverbrauchte Reste von Dachdeckerfirmen, die schon Spuren in sich tragen. Du liebst es, diese vorhandenen Spuren mit deinen eigenen zu verweben. Vieles bleibt stehen, manches schabst du weg, wenn es stört.
Entsteht vielleicht dadurch immer eine zweite Ebene in deinen Radierungen? So etwas Geheimnisvolles, was sich zwischen Bild und Betrachter schiebt?
Diese verschieden Ebenen, machen sie nicht immer die wahre Kunst aus?Vielleicht.

Und meistens spüre ich da immer einen feinen Riss, der sich mir in deinen großformatigen Zeichnungen zu zeigen scheint. Und aus diesem imaginären Riss scheint immer wieder eine neue Blume zu erwachsen, die Ahnung eines seltenen, noch nie gesehen Gewächses. Vielleicht hält mein Staunen über deine Bilder deshalb so unvermindert an.

Und wenn ich in deine Radierwerkstatt schaue, in unserem Haus, so gibt es fast täglich wieder etwas Neues, womit du überraschst, einen Tag um den Anderen.
Auch das ist ein groß empfundenes Glück für mich.

Das wollte ich Dir schon immer einmal sagen.